Bildung ist Zukunft – aber in der Zukunftscharta kommt sie nicht wirklich vor

Kommentar von Sonja Richter

„Deutschland ist Entwicklungsland“ war einer der prägnantesten Sätze, die Entwicklungsminister Gerd Müller am 24.11.2014 bei der Übergabe der Zukunftscharta an die Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin verkündete. Das in einem ansprechenden Layout veröffentlichte Dokument beschreibt acht HandlunKindgsfelder, formuliert als gemeinsame Ziele, die in globaler Partnerschaft erreicht werden sollen. Mit diesen Worten entfernt sich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) von der bisher typischen Unterscheidung zwischen Geber- und Nehmerländern – eine Position, die Entwicklungskritiker und zivilgesellschaftliche Akteure sehr begrüßen. Gerd Müller betont in seiner Rede die Notwendigkeit des Handelns in Deutschland, er sucht die Ursachen für globale Entwicklungen auch vor der eigenen Haustüre. Dieser Perspektivwechsel war allerdings auch nötig: In der internationalen Gemeinschaft werden gerade die neuen „Sustainable Development Goals“ verhandelt, welche explizit Länder des Nordens in die Pflicht nehmen, Nachhaltigkeit in ihr politisches Handeln zu integrieren. Deutschland folgt nun diesem Prozess und legt bereits jetzt mit der Charta ein im partizipativen Schnellverfahren erstelltes Dokument vor, welches in seinen acht Handlungsfeldern an vergangene und derzeit in Verhandlung stehende Entwicklungsziele erinnert. Mit der Zukunftscharta verpflichtet sich Deutschland dazu beizutragen, ein Leben in Würde weltweit zu sichern (Handlungsfeld 1), natürliche Lebensgrundlagen zu bewahren (Handlungsfeld 2) und Wirtschaftswachstum mit menschenwürdiger Beschäftigung verbinden (Handlungsfeld 3). Die weiteren Handlungsfelder beziehen sich auf Menschenrechte und gute Regierungsführung (Handlungsfeld 4), Frieden und Sicherheit (Handlungsfeld 5), Kulturelle und religiöse Vielfalt (Handlungsfeld 6) sowie dem digitalen Wandel (Handlungsfeld 7). Das letzte Handlungsfeld schließlich fordert neben Multi-Akteurs-Partnerschaften eine „neue globale Partnerschaft“ in der Entwicklungszusammenarbeit.

Was fehlt in der Charta?
Anders als die von der UN-Generalversammlung eingesetzte Open Working Group, die kürzlich einen konkreten Vorschlag für die künftigen Sustainable Development Goals vorlegte, identifizierten die am Entstehungsprozess beteiligten deutschen Akteure Bildung nicht als zentrales Handlungsfeld für die Zukunftscharta. Lediglich im ersten Ziel, den Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen, wird Bildung als Instrument der Armutsbekämpfung genannt – hier geht es jedoch überwiegend um Bildungschancen in Entwicklungs- und Schwellenländer. Bildung wird weiterhin wie ein Wundermittel der Entwicklungszusammenarbeit dargestellt, mit dem viele andere Symptome in Ländern des Südens behandelt werden können. Bildung – und zwar Bildung für nachhaltige Entwicklung – spielt jedoch naturgemäß auch im neuen Ansatz der stärkeren Eigenverantwortung der Länder des Nordens eine zentrale Rolle. Immerhin lässt sich hierzu in der Charta genau ein gefühlt nachgeschobener, ohne Kontext formulierter Satz finden, der fordert, dass wir Bildung für nachhaltige Entwicklung in Kindergärten, Schulen, Universitäten und der Berufsausbildung verankern (vgl. S. 14). Im nächsten Absatz geht es aber schon wieder um Infektionskrankheiten und den bisherigen Erfolgen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit – keine würdige Einbettung also für ein Thema, welches Müller wichtig sein müsste.
Insbesondere wenn das BMZ Bewusstseins- und Verhaltensänderungen in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung von den Bürgerinnen und Bürgern, von Schlüsselakteuren im eigenen Land fordert, ist ein Bildungssystem, welches das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung auf allen Ebenen integriert, unabdingbar! Bildungsangebote in Deutschland müssen globale Zusammenhänge konkret machen und Kompetenzen vermitteln, die Individuen befähigen, in einer globalisierten Welt verantwortungsvoll zu handeln. Ohne handlungsfähige Bürgerinnen und Bürger wird Deutschland keinen nennenswerten Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung weltweit leisten können.

Ohne nachhaltig handelnde Bürgerinnen und Bürger keine nachhaltige Entwicklung
Ein moralischer Appell genügt hier nicht und widerspricht auch aus pädagogischer Sicht dem Überwältigungsverbot des Beutelbacher Konsens. Die breite Masse an Konsument(innen) wird nicht von heute auf morgen einfach so auf Fair-Trade-Kaffee und sozial-gerecht fabrizierte Kleidung umsteigen, auch wenn sie um die ungerechten Arbeitsbedingungen von Näherinnen weiß. Zahlreiche Studien zeigen, dass Wissen über globale Zusammenhänge nicht automatisch zu entsprechendem Handeln führt. Es ist eine zentrale Aufgabe von Bildungssystemen, Nachhaltigkeitsbewusstsein und nachhaltige Handlungskompetenz zu vermitteln – und zwar (möglichst) ohne moralischen Zeigefinger. Hierfür bedarf es neue Bildungskonzepte, eine Anpassung der Bildungsangebote und neue wissenschaftliche Erkenntnisse über Lernen in der Weltgesellschaft. Aufgabe der Politik ist es, hierfür entsprechende Rahmenbedingungen zu setzen.
Neben gesetzlichen Veränderungen des Handlungsspielraums verantwortlicher Akteure – dass freiwillige Selbstverpflichtung nicht funktioniert, hat Minister Müller erst kürzlich mit seiner Initiative „Textilbündnis Faire Kleidung“ erleben müssen – sind es somit Individuen, welche die globale Dimension in ihr Denken und Handeln integrieren können und verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen. Doch in der Charta steht nicht, wie Bürgerinnen und Bürger zu nachhaltig handelnden Individuen werden können.
Erklären lässt sich die stiefmütterliche Behandlung des Bildungsthemas nicht zuletzt durch die Auswahl sogenannten „Themenpaten“, welche die Ergebnisse eines mehrmonatigen Dialogprozesses zur Charta zusammenführten. Die Wahl der Themenpaten fiel auf Expert(innen) mit ausgewiesenen Kenntnissen über globale Fragen der internationalen Entwicklung und Zusammenarbeit – keiner dieser Paten vertrat den Schwerpunkt Bildung und repräsentierte somit nicht die von Müller proklamierte Perspektive der Verantwortungsübernahme in den eigenen Reihen. Und die entsprechenden Akteure aus Bildungspolitik und –wissenschaft, die sich in den offenen Dialogprozess durchaus mit einmischen hätten können, waren in diesem Zeitfenster scheinbar zu absorbiert mit den Vorbereitungen zum neuen UN-Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung – welches man perfekt hätte in die Charta integrieren können.
Die Bundesregierung bewegt sich dementsprechend nämlich bereits in die richtige Richtung: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat im November diesen Jahres in Kooperation mit der Deutschen UNESCO-Kommission seine Erfolge während der UN-Weltdekade Bildung für nachhaltige Entwicklung gefeiert. In der Bonner Erklärung 2014 verpflichteten sich Schlüsselakteure aus Politik, Wissenschaft und Praxis zu einer Implementation des Leitbildes der Nachhaltigkeit auf allen Ebenen des Bildungssystems. Auch das BMZ ist diesbezüglich aktiv: Der Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung sowie kleinere und größere Programme zur Förderung entwicklungspolitischer Bildungsarbeit stoßen bei Bildungspraktiker(innen) auf große Resonanz. Der Schulwettbewerb des Bundesministers ist ein weiteres Vorzeigeprojekt des BMZ. Entwicklungspolitische Bildungsarbeit als zentrale Aufgabe des BMZ kann und darf nicht von der Agenda rutschen – schade, dass sich das Thema in den Handlungsfeldern der Zukunftscharta nicht widerspiegelt.

Links zur Zukunftscharta:
Hier gibt’s die Vollversion der Zukunftscharta zum Download
Kurzfassung der Zukunftscharte: Die acht Handlungsfelder

Kleine Presseschau zur Zukunftscharta:

Die offizielle Pressemitteilung des BMZ stellt die zentrale Botschaft des Bundesministers ins Zentrum: “Es gibt nicht mehr eine erste, zweite, dritte Welt. Es gibt nur noch die EINEWELT, für die wir alle Verantwortung haben“.

Die Nichtregierungsorganisationen fordern eine Umsetzung der „ambitionierten“ Charta, wie im aktuellen Positionspapier von VENRO, Verein entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen, ersichtlich wird.

„Hochambitioniert und Wolkig“ betitelt auch die Deutsche Presseagentur seine Meldung zur Zukunftscharta, die von mehreren Medien (u.a. Greenpeace-Magazin; Domradio) genutzt wurde.

Oxfam moniert ebenso die vagen Zielsetzungen und fordert in seiner Presseerklärung einen konkreten Umsetzungsplan des BMZ zur Charta.

Sehr zu empfehlen ist der differenzierte Kommentar von Matthias Böhning, Bundesvorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN e.V.). Er betitelt die Charta als „Gute Initiative zu einem ungünstigen Zeitpunkt“.

Die Süddeutsche Zeitung schlägt ebenso einen unterschwellig zweifelhaften Ton in der Berichterstattung zur Charta an: Der Autor schreibt über ein „Kleines Ministerium mit großen Plänen“, welches „die deutsche Entwicklungspolitik revolutionieren“ will.

Die Deutsche Welle spricht in ihrem Bericht von „Neuen Zielen für die Entwicklungspolitik“ (die eigentlich gar nicht so neu sind) und stellt Müller´s medienwirksame Inszenierung der Chartaübergabe in den Mittelpunkt.

[Edit vom 14.01.2015].
Weitere kritische Beiträge zur Zukunftscharta und ihres Entstehungsprozesses finden sich  zudem auf dem privat betriebenen Blog der Plattform Entwicklungspolitik Online (www.epo.de) von Klaus Boldt zu finden:  Hier wird kritisiert, dass kommerzielle Politikberater  Daten von BMZ-Bürgerforum für die “Zukunftscharta” erhalten. In einem weiteren Beitrag wird die “Zukunftswerkstatt” zudem als Inszenierung für künftige Entwicklungspolitik der Bundesregierung  ausgelegt.

[Edit 22.01.2015]
Im neuen Imagemagazin “BMZeit” berichtet ds BMZ ab Seite 8 mit medienwirksamen Bildern und Auszügen aus der Rede der Bundeskanzlerin über das Zukunftsforum.

Zitation:

Richter, Sonja (2014): Bildung ist Zukunft, aber in der Zukunftscharta kommt sie nicht wirklich vor. Kommentar zur Zukunftcharta der Fachstelle GLiS – Globales Lernen in der Schule. Online verfügbar unter: http://www.fachstelle-glis.de/bildung-ist-zukunft.